Schwester Consolatrix Bradatschek gehörte von 1979 bis 2000 zum Leitungsteam der Schule. Die vinzentinische Ordensfrau kannte die Schule aber bereits seit 1969, als sie Lehrerin an der Diätschule im selben Gebäude wurde. Stefan Böck war von 2010 bis 2020 stellvertretender Schulleiter und von Ende 2020 bis Anfang 2021 kommissarischer Leiter der Schule. Die beiden überblicken also gemeinsam mehr als die Hälfte der 100-jährigen Geschichte dieser Bildungseinrichtung. In einem Interview der Patientenzeitschrift „marien“ berichten sie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen.
Eigener Schlüssel
marien: Schwester Consolatrix, als Sie 1979 in die Schulleitung kamen: Was war Ihre erste Amtshandlung?
Schwester Consolatrix: Zunächst habe ich allen Pflegeschülerinnen, die in unserem Wohnheim wohnten, einen eigenen Hausschlüssel gegeben. Bis dahin benötigten die Schülerinnen noch einen Genehmigungsschein der Schulleitung, wenn sie abends länger ausgingen. Sie mussten sich bei der Rückkehr damit am Pförtnerhaus melden, das es früher noch am Krankenhauseingang gab. Mir war es aber immer wichtig, dass junge Leute Eigenverantwortung lernen.
Zu meinen ersten Aufgaben gehörte es zudem, die Zahl der Krankenpflegekurse von drei auf sechs zu erhöhen, um genug Pflegenachwuchs auszubilden. Pflegekräfte sind nicht erst heute knapp, sondern waren es damals auch schon. Das Marienhospital wuchs sehr stark und benötigte immer mehr Pflegende. Im Stellenplan zählten damals sechs Schülerinnen als eine Pflegestelle. Die Schülerinnen brachten damit viel Entlastung auf die Pflegestationen, weil sie dort ja bereits während der Ausbildung kräftig mitarbeiteten.
marien: Herr Böck, wie ist die Situation heute?
Stefan Böck: Der Gesetzgeber möchte, dass die Pflegeausbildung heute weitgehend frei von Arbeit in dem Sinne ist, dass die Auszubildenden examinierten Pflegekräften zuarbeiten. Sie sollen sich auch bei ihren Praxiseinsätzen auf den Stationen auf ihre Ausbildung und aufs Lernen konzentrieren können. Im ersten Ausbildungsjahr erfolgt zum Beispiel gar keine Anrechnung auf den Stellenplan mehr.
marien: Auf historischen Klassenfotos sieht man nur junge Frauen. In alten Dokumenten ist auch oft von „Schwesternschule“ statt „Krankenpflegeschule“ die Rede. Seit wann wurde denn auch Männer aufgenommen?
Schwester Consolatrix: In den Gründungsjahren machten vor allem Ordensschwestern an der Schule ihre Pflegeausbildung. Später kamen auch junge Frauen dazu, die keinem Orden beitreten wollten. In den Siebzigerjahren haben wir dann auch die ersten jungen Männer ausgebildet.
Stefan Böck: Der Männeranteil hat sich nur langsam erhöht. Ich habe 1999 meine Krankenpflegeausbildung in Dillingen abgeschlossen. In dem Kurs waren 21 Frauen und drei Männer. Heute liegt der Männeranteil so etwa bei 15 bis 20 Prozent.
Männer in der Pflege?
marien: Schwester Consolatrix, wie war das mit den ersten jungen Männern?
Schwester Consolatrix: Die Männer traten im Unterricht oft selbstbewusster auf, weil viele der männlichen Bewerber zuvor eine höhere Schulbildung genossen hatten. Einige der damals ausschließlich weiblichen Lehrkräfte fühlten sich zunächst sehr herausgefordert, da sie vorher ja nur Frauen unterrichtet hatten. Richtig problematisch wurde es, als wir die jungen Männer auf der Gynäkologie einsetzen wollten. Das haben viele altgediente Pflegekräfte abgelehnt. Man könne Frauen keine männlichen Pflegekräfte zumuten. Ich fand das nur bedingt nachvollziehbar, denn wir muten Männern ja auch weibliche Pflegekräfte zu.
Stefan Böck: Heute ist es normal, dass männliche Pflege-Auszubildende auf der Gynäkologie arbeiten. Wenn eine Patientin lieber nicht von einem Mann gepflegt werden möchte, respektieren wir das aber selbstverständlich.
marien: Oft herrschte in den letzten hundert Jahren ja ein Mangel an Pflegekräften. In den Achtzigerjahren war das aber mal völlig anders.
Schwester Consolatrix: Ja, Anfang und Mitte der Achtzigerjahre kamen die Babyboomer in den Beruf. Wegen der geburtenstarken Jahrgänge gab es in vielen Berufen zu viele Bewerber auf zu wenige Ausbildungsplätze. Dazu kam noch eine Wirtschaftskrise. Damals bewarben sich sogar Menschen bei uns, die bereits ein komplettes Studium abgeschlossen hatten und keinen Job fanden. Das war eine Zeit, in der wir den meisten Bewerberinnen und Bewerbern absagen mussten.
Der Ruf der Kirche wichtig?
marien: Die Schule gehört zum Marienhospital, das in der Trägerschaft eines kirchlichen Ordens steht. Der Ruf der katholischen Kirche ist heute nicht gut. Kommen Bewerber für die Pflegeausbildung zu Ihrer Schule, weil sie katholisch ist oder obwohl sie katholisch ist?
Stefan Böck: Mein Gefühl ist, dass der Ruf der Kirche mit uns kaum in Verbindung gebracht wird. Zudem sind die wenigsten Jugendlichen heute noch eng kirchlich gebunden. Wir nehmen heute Bewerberinnen und Bewerber aller Religionen auf und auch solche ohne religiöse Bindung. Wichtig ist, dass sie unsere vom christlichen Menschenbild geprägten Grundwerte mittragen wollen.
Schwester Consolatrix: Auch in meiner Zeit als Schulleiterin waren mir vor allem die Persönlichkeit und die Werte der Bewerber wichtig.
Feiern und mehr
marien: Was bedeuten christliche Grundwerte denn konkret?
Stefan Böck: Jeder unserer Auszubildenden soll das Gefühl haben, dass er gesehen wird. Die menschliche Komponente überträgt sich dann im Klinikalltag auch auf das Verhältnis der Pflegenden zu den Kranken.
Schwester Consolatrix: Ja, auch in der Schule kennt man sich untereinander, man vermisst sich, man hat mehr als nur ein berufliches Interesse aneinander.
marien: Gibt es gemeinsame Gottesdienste der Schüler?
Stefan Böck: Zu Beginn und am Ende der Ausbildung und zu einigen anderen Anlässen gibt es religiöse Feiern. Diese haben einen weniger formalen Ablauf als die christliche Liturgie, möchten aber ähnliches vermitteln. Es bereiten auch immer wieder Auszubildende die Momente der Stille in der Klinikkapelle vor. Das sind kurze Veranstaltungen in der Mittagszeit, die allen Mitarbeitenden des Marienhospitals Gelegenheit zum kurzen Innehalten im stressigen Berufsalltag bieten.
Auch ein Studium möglich
marien: Die Werte haben sich also wohl zu einem großen Teil erhalten. Aber was hat sich geändert?
Stefan Böck: Der Name der Schule hat sich mehrmals geändert. Auch die Ausbildungsinhalte und das Verständnis von Pflege haben sich grundlegend gewandelt. Früher erfolgte die Wissensweitergabe aufgrund von Erfahrungen. Mit Entstehen der Pflegewissenschaften vor etwa 30 Jahren wurde sie immer wissenschaftlicher. Wir bieten heute unseren Schülern auf Wunsch auch ein Pflegestudium an.
marien: Die Pflegekräfte sind ja laut Gesetz heute auch stärker in der Eigenverantwortung.
Stefan Böck: Die Pflegekraft ist heute nicht mehr rein weisungsgebunden und quasi dem Arzt unterstellt. Das aktuelle Pflegegesetz sagt, die Erhebung des Pflegebedarfs sowie die Organisation und Gestaltung der Pflege obliegen allein den Pflegekräften. Dies gilt auch für die Analyse und Sicherstellung der pflegerischen Qualität. Die Pflegekräfte heißen heute zudem offiziell Pflegefachfrau und Pflegefachmann und nicht mehr Schwester und Pfleger. Krankenpflege, Altenpflege und Kinderkrankenpflege werden seit zwei Jahren zusammen unterrichtet und nicht mehr an getrennten Schulen. Das öffnet sehr vielfältige Berufsperspektiven.
Pflegende sind knapp
marien: Vor hundert Jahren mussten die Eltern noch Schulgeld für die Pflegeschüler bezahlen, heute bekommen diese eine Ausbildungsvergütung. Die Berufsperspektiven für Pflegekräfte sind zudem hervorragend. Man kann mit der Ausbildung heute im Krankenhaus, im Altenheim, aber auch in der Wissenschaft arbeiten oder noch ein Studium draufsatteln. Das Gehalt ist zwar nicht üppig, aber inzwischen besser als in vielen anderen Berufen. Wieso haben wir trotzdem Pflegepersonalmangel?
Schwester Consolatrix: Es gibt wegen der geburtenschwachen Jahrgänge insgesamt weniger junge Leute. Und Auszubildende sind ja nicht nur in der Pflege knapp, sondern auch in sehr vielen anderen Bereichen.
Stefan Böck: Probleme sind zudem die Arbeitszeiten auch nachts und am Wochenende, Zeitdruck durch zu eng berechnete Stellenpläne und der enorme Grad der Bürokratisierung. Hier muss der Gesetzgeber dringend etwas unternehmen. Trotz aller Probleme höre ich von Pflegenden aber immer wieder, Pflege sei der beste und am meisten sinnstiftende Beruf, den sie sich vorstellen können. Die Motivation, kranken und oft verzweifelten Menschen zu helfen, ist bei jungen Menschen nach wie vor sehr groß und für viele der Hauptgrund, um in den Pflegeberuf zu gehen.