Krebsexperten stimmen die neuen Therapien hoffnungsvoll. Sie geben aber noch viele Rätsel auf, befinden sich teilweise erst in einem experimentellen Stadium. Der „Zweckverband Personalisierte Medizin“ ist ein Zusammenschluss von Krebskliniken aus der Region. Er will die Erkenntnisse zu den neuen Therapien bündeln und in seinem wöchentlichen „Molekularen Tumorboard“ beraten, welche von ihnen bei einem ganz konkreten Patienten am erfolgversprechendsten ist.
Gegen Therapiewildwuchs
Professor Dr. Claudio Denzlinger ist Krebsexperte und Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin 3 am Marienhospital Stuttgart. Er sagt: „Den meisten Krebspatienten helfen die bewährten Behandlungsmethoden wie Operation, Chemo- und Strahlentherapie gut.“ In einigen Fällen schlagen diese aber nicht an. „Manchmal erzielen wir dann mit den ganz neuen Therapieformen erstaunliche Erfolge bis zur Heilung.“
Die neuen molekularen Therapien richten sich nicht nach Tumorart und -herkunft, sondern nach genetischen Eigenschaften des Tumors. Wegen der Seltenheit einzelner Mutationen (genetischer Veränderungen) fehlen oft Studien dazu, welche der neuen Methoden welchem Patienten hilft. „Es gibt neue Krebsmedikamente, die schon für die Behandlung einer bestimmten Krebsart zugelassen sind. Aufgrund ihres Wirkmechanismus lässt sich vermuten, dass sie auch bei ganz anderen Krebsarten funktionieren. Wenn jeder Arzt das für sich ausprobieren würde, gäbe es einen Therapiewildwuchs mit mehreren negativen Auswirkungen.“
Zunächst wäre da das Problem, dass der Patient eventuell eine Therapie bekäme, die sich bereits in ähnlichen Fällen als wirkungslos erwiesen hat. Umgekehrt könnte ein Arzt eine passende Therapie „versäumen“, die andernorts schon mit Erfolg eingesetzt wurde. Claudio Denzlinger ergänzt: „Hinzu kommen finanzielle Probleme. Einige der neuen Therapien kosten etliche zehntausend Euro. Sie sollten deshalb nur dann eingesetzt werden, wenn die Chance auf einen konkreten Handlungserfolg besteht.“
Anonymisierte Daten für die Forschung
Um ihre Expertise zu bündeln, gründeten Kliniken aus der Region 2020 den Zweckverband Personalisierte Medizin. Die Hospitäler schalten sich seit Juni vergangenen Jahres jeden Donnerstagnachmittag zu einem sogenannten molekularen Tumorboard zusammen. „Eine halbe Stunde lang besprechen wir per Videokonferenz Fälle einzelner Patienten mit schwierigen Diagnosen. Wir legen dann gemeinsam Therapieempfehlungen für diese Patienten fest“, so Claudio Denzlinger. Neben dem Marienhospital sind zwei weitere Kliniken aus Stuttgart sowie Hospitäler aus Esslingen, Heilbronn, Ludwigsburg und Bruchsal beteiligt. Mit dabei sind zudem Vertreter des Tübinger Analyselabors CeGAT.
Das Tumorboard will nicht nur einzelnen Patienten helfen. Es soll durch Aufbereitung und Veröffentlichung der anonymisierten Behandlungsdaten auch dem Forschungsfortschritt dienen.
Personalisierte Therapie auch bei der Tumorbestrahlung
Auch in der Radioonkologie spielt die personalisierte Krebstherapie eine immer größere Rolle. Professor Dr. Thomas Hehr ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Palliativmedizin des Marienhospitals. Aus Anlass des Weltkrebstags am 4. Februar 2021 wies er darauf hin, dass auch in der Strahlentherapie „neue Erkenntnisse in Bezug auf molekularbiologische Eigenschaften der Tumorzellen an Bedeutung gewinnen.“ Denn auch die Strahlenempfindlichkeit von Krebszellen ist von biomolekularen Merkmalen abhängig. Ein Beispiel sei Krebs im Mund-Rachenraum. Molekularbiologisch unterscheiden sich die dortigen Tumoren. Sie können durch humane Papillomaviren ausgelöst oder durch Nikotin verursacht werden. Erstere sind strahlungsempfindlicher. Sie lassen sich daher bei gleicher Heilungschance mit geringerer Intensität und damit weniger Nebenwirkungen bestrahlen.