In der Reihe „Vom Zuhören und Sprechen“ denken Führungskräfte des Marienhospitals darüber nach, was sich zwischen den behandelten und den behandelnden Menschen abspielt. Insbesondere darüber, wo es hakt. Hier ein Beitrag von Dr. Johannes Becker-Pfaff, dem Ärztlichen Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Marienhospitals.
„Zuuuu-hören ist mehr als Hören“
So lautete ein schnarrend in die Klasse geschmetterter Satz meines Mathematik-Lehrers in der fünften Klasse, wenn ein Schüler wieder einmal etwas nicht verstanden hatte oder wiedergeben konnte und die Aufgabe deswegen nicht gelöst bekam. Man möchte es auch den Ärzten täglich zurufen.
Die kleine Silbe „zu“ beschreibt die Essenz einer gelungenen Arzt-Patient-Beziehung. „Zu“ wird in mehreren Bedeutungen verwendet, insbesondere aber als „in Richtung auf …“ „in Bezug auf …“ Ein Arzt, der seinem Patienten zu-hört, der wendet sich ihm zu, der interessiert sich aktiv für ihn, der nimmt auf, was der Patient ihm sagt, der ist für den Patienten da. Nur wenn er zu-hört, kann er sinnvolle Fragen stellen, die das bereits Gehörte berücksichtigen. Und nur dann kann er dem Patienten antworten. Diese Antwort muss nicht immer aus Worten oder Taten bestehen.
Nur Hören ist nicht Zuuuuhören
Wenn der Arzt den Patienten nur hört, dann ist er ihm nicht zugewandt, dann hört er Worte wie Geräusche. Bestenfalls entnimmt er diesen Geräuschen Informationen, die er zu Diagnostik und Behandlung benötigt, die er aber nicht benutzen kann, um dem Patienten das Gefühl „Zugewandtheit“ zu vermitteln.
In der Zeit N°2 vom 3.1.2020 ermahnt der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio (Lehrstuhl für Palliativmedizin in Lausanne/Schweiz) die Ärzte zum Zuhören. Er setzt sich mit dem Begriff der sprechenden Medizin auseinander und gibt seinen ärztlichen Kollegen mit auf den Weg: „Seid doch mal still.“ Er kommentiert die praktizierte „sprechende Medizin“ gleich zweifach kritisch: Zum einen beschreibt er, wie bereits Medizinstudenten im Laufe ihres Studiums eine zunehmend von Fachwörtern durchsetzte Sprache lernten, die sie dann zwar sprechen, die der Patient aber nicht mehr versteht. Zudem ist das Aufnahmevermögen des Patienten gerade in Krisensituationen stark eingeschränkt. Zum anderen macht er deutlich, dass wer (viel) spricht, nicht (zu-)hört. Borasios Gedanken wären so fortzusetzen, dass aus dem Begriff der sprechenden Medizin der Begriff der zuhörenden und antwortenden Medizin zu entwickeln ist.
Dinge, die Patienten einfordern können
Doch was nutzen wohlklingende Gedanken im Alltag – kann die Ärzteschaft das lernen? Es sind wenige Bedingungen, die es herzustellen und zu befolgen gilt, um es sich und den Patienten mit dem Zuhören und dem Gehörtwerden leichter zu machen. Patienten sollten dies einfordern dürfen:
- Einen ungestörten Rahmen schaffen: einen Platz ohne Störungen und die Verbannung des Diensttelefons zum Kollegen oder mittels „Aus“-Knopf. Das Gespräch ist dann wie eine Operation. Auch dafür gibt es ein Extrazimmer, und sobald die Hände desinfiziert sind, ist das Telefon tabu.
- Es wirklich wissen wollen, wie es dem Patienten geht.
- Nach der Begrüßung entweder „Klappe halten“ oder fragen, was den Patienten beschäftigt: Der Patient wird mit dem anfangen, was ihm wichtig ist. Danach wird noch genügend Gelegenheit sein, wichtige Fakten abzufragen.
- Den Worten des Patienten „urteilsfrei, aufmerksam und – im eigentlichen Sinne des Wortes – wohlwollend zuhören.“ (Borasio a.a.O.)
- Bedächtig und kurz antworten und die eigenen Interessen von denen des Patienten differenzieren. Die Psychoanalytiker nennen das Abstinenz.
- Dann hören, was der Patient gehört hat und von dem differenzieren, was man sich wünscht, das der Patient gehört hat.
Aus dem Hören wird so ein „Zuuuu-hören“, das dazu führt, dass der Arzt den Patienten versteht, seine Anliegen wiedergeben und die wirklich richtigen Schlüsse im Sinne des Patienten ziehen kann.
Dr. med. Johannes Becker-Pfaff
(Experte für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychoonkologie)