Professor Dr. med. Ulrich Liener ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie des Marienhospitals. Eines seiner Spezialgebiete ist die Alterstraumatologie, bei der es um Verletzungen und Knochenbrüche im Alter geht. Hier spielt insbesondere die Osteoporose (Knochenschwund) eine große Rolle. Denn diese führt letztlich zu den vielen Knochenbrüchen älterer Menschen bereits bei leichten Stürzen.
Keiner kann das alles lesen
„Weil die Bevölkerung immer älter wird und Knochenschwund vor allem im Alter auftritt, ist Osteoporose heute eine Volkskrankheit“, so Ulrich Liener. „Wissenschaftler weltweit stellen sich die Frage, wie man Osteoporose im Alter verhindern kann und wie man eine bereits vorhandene Osteoporose optimal behandelt“, sagt Professor Liener. Daher werden jedes Jahr hunderte entsprechender Studien durchgeführt. Die besten werden in medizinischen Fachjournalen veröffentlicht.
„Aber kein praktisch oder klinisch tätiger Arzt kann diese Zeitschriften alle lesen, geschweige denn selbst bewerten, welche Studien wie aussagekräftig sind“, so Professor Liener. Denn viele Studien genügen wissenschaftlichen Anforderungen nicht oder nur zum Teil. Entweder weil ihre Teilnehmerzahl zu gering ist oder weil sie andere methodische Mängel aufweisen.
25 Experten checken Studien
Die moderne wissenschaftlich basierte Medizin arbeitet mit Behandlungsleitlinien. Deren Basis ist all das in Studien zusammengefasste aktuelle Wissen. Am Beispiel der Osteoporose läuft die Erstellung der Leitlinien in Deutschland so: Jedes medizinische Fachgebiet wird von einer Fachgesellschaft vertreten. In dieser kann jeder Arzt des entsprechenden Fachs Mitglied werden. Osteoporose wird von zahlreichen medizinischen Fachgebieten diagnostiziert und behandelt. Darunter Orthopäden, Unfallchirurgen, Hausärzte, Endokrinologen (Drüsen- und Hormonexperten), Gynäkologen, Geriater (Altersmediziner), Rheumatologen, Radiologen und Physiotherapeuten.
Die Fachgesellschaften all dieser Disziplinen entsenden eigene Experten, die sich zu einer Leitliniengruppe zusammenschließen. Professor Liener und ein Kollege aus München wurden von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie in die 25-köpfige Gruppe entsandt. Ulrich Liener qualifizierte sich für die Leitliniengruppe, weil er bereits jahrelang zum Thema Osteoporose forscht. Er ist auch einer der Herausgeber des 2018 erschienenen „Weißbuchs Alterstraumatologie“. Osteoporose ist darin ein wichtiges Thema.
Virtuelle und reale Treffen
Professor Liener: „Die aktuellen Osteoporose-Leitlinien stammen von 2017. Da wissenschaftliche Erkenntnis stetig fortschreitet, haben wir im Februar 2021 mit der Überarbeitung begonnen. Die Gruppe trifft sich dafür mehrmals virtuell und real.“ Auch die Mitglieder der Leitliniengruppe überblicken nicht im Detail alle Studien zur Osteoporose. Daher teilt sich die Leitliniengruppe in Untergruppen auf. Professor Liener ist im sechsköpfigen „Team Fraktur“ (Knochenbrüche). Acht weitere Teams befassen sich unter anderem mit Themen wie Sturz, Rheuma und Ernährung.
Auf Grundlage der weltweiten Studienlage überprüfen die Wissenschaftler beispielsweise Fragen wie: Leiden Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufiger an Osteoporose? (Antwort: Einen sicheren Nachweis zu der These gibt es nicht). Ist Immobilität ein Risikofaktor für Frakturen? (Antwort: Ja, aber nur ein kleiner). Wachstumshormonmangel hingegen erhöht das Risiko einer Osteoporose um das Zwei- bis Dreifache. Daher empfehlen die Leitlinien Betroffenen eine frühzeitigere Kontrolle der Knochendichte und eventuell eine vorbeugende medikamentöse Behandlung. Die Empfehlungen betreffen aber auch Dinge wie: „Wem sollte der Arzt Vitamin-D-Tabletten oder Kalzium empfehlen?“ oder „Kann Sport Osteoporose verhindern?“ Die vorliegenden Studien beantworten solche und ähnliche Fragen teils kontrovers. Eine wichtige Aufgabe der Leitliniengruppe ist es daher, die Relevanz und methodische Sauberkeit der einzelnen Studien zu berücksichtigen.
Verblindung ist wichtig
Ein zentraler Begriff ist dabei „Verblindung“. Etwa wenn getestet werden soll, welches von zwei Osteoporosemedikamenten bei bestimmten Menschen besser wirkt. In diesem Fall sollte der an der Studie teilnehmende Patient nicht wissen, welches der beiden Medikamente er bekommen hat. Auch die Ärztinnen und Ärzte, die den Patienten oder die Patientin befragen und untersuchen, sollten darüber keine Informationen haben. Solche „doppelt verblindeten“ Studien gelten als besonders zuverlässig.
Veröffentlicht werden alle Leitlinien auf dem Wissenschaftsportal der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Die Osteoporose-Leitlinie ist zudem beim DVO abrufbar, dem Wissenschaftlichen Dachverband Osteologie (Knochenheilkunde). Ulrich Liener: „Veröffentlichte Leitlinien werden nach Qualitätsstufen bewertet. Die für Osteoporose hat die höchste Stufe S3. Das heißt, dass sie auf hochwertigen wissenschaftlichen Studien fußt und alle Elemente einer systematischen Entwicklung und Bewertung durchlaufen hat.“
Von 216 Seitenumfang auf ein Kärtchen reduziert
„Wir haben für viele Krankheiten hervorragende Leitlinien. Kritiker sagen, dass sie in der Praxis aber mitunter nicht umgesetzt werden“, so Professor Liener. Dies könnte auch an einem zu hohen wissenschaftlichen Anspruch liegen. Die aktuellen Osteoporose-Leitlinien umfassen 216 Seiten. Für den Alltag in Kliniken und Praxen ist das sehr viel, denn die Ärzte dort behandeln ja neben Osteoporose noch viele andere Krankheiten, zu denen es jeweils ebenfalls oft umfangreiche Leitlinien gibt. Daher steht neben der Langversion auf der DVO-Homepage auch eine sogenannte Kitteltaschenversion zur Verfügung. Das ist eine gekürzte achtseitige Fassung.
Zudem rüstet Professor Liener seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch noch mit Kitteltaschenkarten aus; eine davon zum Thema Osteoporose. Auf dieser ist in Kurzform beispielsweise vermerkt, welche Untersuchungen oder Medikamente laut Leitlinien bei welchem Grad der Vorerkrankung empfehlenswert sind und welche nicht. „Die laminierten kleinen Karten sind besonders für noch nicht so routinierte Kollegen ein wichtiges Hilfsmittel“, sagt Professor Liener. 2022 sollen die neuen Leitlinien veröffentlicht werden.